Mittwoch, 4. April 2007

Hat Simmel Recht?

Schafft man es, einen soziologischen Fachtext zu lesen, ohne nach jedem dritten Wort einen Schluck Wasser trinken zu müssen, und verspürt man, am Ende des Textes angelangt, immer noch menschliche Regungen wie etwa Durst, was als Beweis gelten kann, dass man sich während der Lektüre wider Erwarten NICHT in einen Aktenschredder verwandelt hat, dann hat man es höchstwahrscheinlich mit einem Stück Prosa des Philosophen und Soziologen Georg Simmel (1858-1918) zu tun.

In seinem Aufsatz „Die Großstädte und das Geistesleben“ aus dem Jahr 1903 erklärt der Berliner Philosoph mit dem unphilosophischen Namen, wie der moderne Großstadtmensch der bedrohlichen „Steigerung des Nervenlebens, die aus dem raschen und ununterbrochenen Wechsel äußerer und innerer Eindrücke hervorgeht“, begegnet:
Als „Präservativ des subjektiven Lebens gegen die Vergewaltigungen der Großstadt“ dient dem Großstadtmenschen sein Verstand. Der Verstand ist nämlich „das am wenigsten empfindliche, von den Tiefen der Persönlichkeit am weitesten abstehende psychische Organ“, sein Ort sind die „durchsichtigen, bewussten, obersten Schichten unserer Seele“. Vorsichtshalber also spannt der Großstadtmensch zur Reizverarbeitung lediglich den Verstand ein, das Gefühl wird arbeitslos.

Damit einher geht die „Blasiertheit“: eine „Abstumpfung gegen die Unterschiede der Dinge, nicht in dem Sinne, dass sie nicht wahrgenommen würden, wie von dem Stumpfsinnigen, sondern so, dass die Bedeutung und der Wert der Unterschiede der Dinge und damit der Dinge selbst als nichtig empfunden wird.“ – Dem Großstadtmenschen muss alles mehr oder weniger egal sein, zumindest muss er so tun, als ginge ihn im Grunde alles nichts an, berühre ihn allenfalls an der äußeren Hirnrinde, da, wo der Verstand sitzt, mehr nicht.

Liebe Berliner, sagt: Hat Simmel Recht? Seid ihr wirklich allesamt Rechenmaschinen in Menschengestalt? Oder ist alles ganz anders? Und wenn ja: Wie?


Berliner Wal-Plakat: Manchen Großstadtreizen zu widerstehen fällt leichter als Simmel vermuten lässt.

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