Samstag, 21. Oktober 2006

Plädoyer fürs Nicht-Wissen.

„Ich weiß nicht, was das ist“, sagt der Mann und macht eine ausholende Geste. Vor ihm: eine verrätselte Stahlkonstruktion, ein überdimensionaler Rahmen, der sich weiter hinten im Kleinen wiederholt und schließlich den Blick freigibt auf Karlswiese und Marmorbad. Hinter ihm: ein Pärchen. Die Stadt: Kassel. Der Ort: neben der dokumenta-Halle.

Der Satz und die Geste wirken in ihrer Gegensätzlichkeit eigentümlich anziehend. Das offene Bekenntnis zur Unwissenheit und die schwungvolle Fremdenführer-Armbewegung in Richtung Kunstwerk zeugen, zusammen genommen, von einer Großzügigkeit, die umso beeindruckender ist, als sie nichts will. Sie will nicht imponieren, sie ist einfach da. Genauso gut hätte der Mann das stählerne Rätsel ignorieren und stattdessen auf die Landschaft verweisen können. „Hier unten seht ihr das Marmorbad und dort hinten die Orangerie“, hätte er zum Beispiel sagen können. Aber was hätte es gebracht? Der Besuch hätte vermutlich stumpfen Blickes genickt und die Namen schon im nächsten Moment vergessen.

Stattdessen hat der Mann - „Ich weiß nicht, was das ist“ - die Leute eingeladen, sich ihrer Unwissenheit nicht nur zu stellen, sondern sie regelrecht zu genießen. Die Folge: Fragezeichen auf den Gesichtern. Neugier. Rätsel. Begehen des Kunstwerks. Betrachten von allen Seiten. Vermutungen. Ahnungen. Nachdenken. Lachen.

Ich wette, die Besucher werden sich noch lange an den Moment erinnern. Nicht OBWOHL, sondern WEIL sie nicht wussten, "was das ist".

Ich behaupte: Was für die Kunst gilt, gilt erst recht fürs Leben. Und weiter: Würde man den „Ich weiß nicht, was das ist“-Satz nur öfter hören - die Welt wäre eine andere. Die Entscheider und Entscheiderinnen würden ab und zu innehalten und FRAGEN, statt am Fließband Antworten zu produzieren, Antworten, die meist nicht der Erkenntnis, sondern anderen Interessen dienen – Kostensenkung und Wählervertrauen, an erster Stelle aber Verbergen von Unsicherheit. Keine Chance zu wachsen, höchstens als Luftblase. Pessimistische Sicht: Mit heißer Luft aufgeblähtes Selbstbewusstsein regiert die Welt. Optimistische: Theoretisch reicht ein Nadelstich, und die Blase platzt.

Die Gruppe mit dem sokratischen Anführer ist verschwunden. Ein Mann setzt sich einen Steinblock weiter neben mich. Zündet sich eine Zigarette an. Deutet auf die Stahlkonstruktion. Fragt: „Was ist das?“ – „Ich weiß nicht“, sage ich. - „Aber es soll doch etwas bedeuten“, bohrt der Mann weiter. – „Ja“, sage ich, „man muss eben überlegen“. – „Sie sind nicht von hier?“ wird nun kombiniert. - „Nein“, sage ich, „ich kenne mich wirklich überhaupt nicht aus“. Der Mann zieht an seiner Zigarette, steht auf und würdigt den Rahmen mit dem Ausschnitt Welt keines Blickes.

5 Kommentare:

  1. Ja, allerdings in Reinform natürlich nicht umsetzbar. Wo kämen wir da hin, wenn alle sich nur noch am Bart kratzen und die Stirn runzeln würden, anstatt zu informieren, produzieren und konsumieren! Obwohl - vielleicht gäbe es nach der kollektiven Denkpause einen großen Plop! und es käme z.B. heraus, dass die Tafeln mit den Börsenbarometern alle verkehrt herum hängen.

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  2. Ich hab das eher so verstanden, dass man sich für das Nicht-Wissen nicht zu entschuldigen und zu schämen braucht. Setzt natürlich eine gewaltig gestiegene Toleranzgrenze bei den Wissenden voraus - was wohl das eigentlich Tolle wäre!

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  3. Genau das ist gemeint - und eben noch ein bisschen mehr: Nicht nur nicht schämen, sondern sich freuen, dass man noch Platz hat im Hirn für Neues - das hat schließlich nicht jeder!

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  4. Ja, ja, schon. Aber bei mir ist kein Platz mehr. Will sagen, wenn was Neues kommt, muss was altes raus. Und am nächsten Tag weiss ich nicht mehr, was Waschbär auf Englich heisst.

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