Mittwoch, 22. Februar 2006

Familiengeschichten, Folge 859.
Heute: Geburtstag in Ulm.

Gestern war der 21. Februar 2006. Für diese Nachricht werde ich den Pulitzer-Preis für investigativen Journalismus zwar wohl wieder nicht bekommen. Dafür aber vielleicht hie und da aus der handverlesenen Blogleserschaft ein Paar erhobener Augenbrauen ernten, wenn ich die eher mäßig interessante Nachricht um Folgendes ergänze:

Dass gestern der 21. Februar war, bedeutet nämlich auch, dass die Familie meiner Schwester gemeinsam mit „den Großeltern“ im schönen Städtchen Ulm den zweiten Geburtstag meines Neffen feierte.

Ulm braucht sich seines Ulmseins nicht zu schämen: Nicht nur der höchste Kirchturm der Welt (!) ragt hier mit 161,53 Metern weithin sichtbar über allen Wipfeln empor, nein, hier haben auch so bedeutende Persönlichkeiten wie Hans und Sophie Scholl, Claudia Roth, Mike Krüger und Uli Hoeneß den ersten Schrei getan. Der berühmteste Sohn der Stadt aber heißt Albert Einstein.

Moleküle seines scharf analytischen, mathematisch-logischen Geistes sind wohl noch immer in der Ulmer Luft nachweisbar. Anders ist die numerische Blitzgescheitheit meines 24 Monde zählenden Neffen kaum zu erklären. Denn der antwortete auf die knifflige und mehr zum Amüsement der Erwachsenen gestellte Frage seines Großvaters, wo er denn vor zwei Jahren gewesen sei, mit einem entschlossenen: „Eins minus!“

Die verdutzte Geburtstagsgemeinschaft wurde daraufhin von meiner Schwester aufgeklärt, dass dies kühn-intuitive Rechenergebnis wohl auf den Umstand zurückzuführen sei, dass Schwesterchen Lara (6) ihre Mathematik-Hausaufgaben stets laut proklamierend im gemeinsamen Kinderzimmer zu erledigen pflege, weswegen dem Kleinen Lautkombinationen des Typs „Zahl“ und nachfolgendem „Plus“ bzw. „Minus“ durchaus vertraut seien. Aber wieso hat er dann nicht „drei plus“ oder „minus sieben“ gesagt? Wieso gerade „eins minus“? Die Hausaufgaben-Nachahmungs-These jedenfalls überzeugt mich nicht. Ich meine: Echte Genialität entzieht sich aller Erklärung!

Montag, 20. Februar 2006

Schildergalerie:
Karlsruhe in Schildern.


Um die Entstehung französischer Verhältnisse zu verhindern, hat man der Karlsruher Jugend Freiflächen für eine Rebellion in Maßen eingerichtet.



Schwarzwälder Kirschtorte vor romantischer Kulisse genießen - nirgends geht das so gut wie in Karlsruhe!



ver.di verzeichnete in Karlsruhe einen ersten Teilerfolg.



Professioneller Trauerbeistand heißt in Karlsruhe, selbst in der schwärzesten Stunde nicht den Humor zu verlieren.



Schon lange bevor es das Wort gab, wusste man in Karlsruhe die moderne Patchworkbiographie zu würdigen.



Angesichts leerer Kassen muss man es heute für eine posthume Würdigung in Blech immerhin zum Vorsitzenden gebracht haben.

Freitag, 17. Februar 2006

Rosine des Tages.

Klappentexte sind eine heikle Sache. Entweder versprechen sie zuviel oder zu wenig. Die Klappentexte, die mich wirklich neugierig auf das Buch gemacht haben, ohne dass ich hinterher enttäuscht war, könnte ich auch dann noch an einer Hand abzählen, wenn mir zwei Finger fehlten.

Hin und wieder findet man im teigigen Blabla eines Klappentextes jedoch wahre Rosinen. Damit meine ich nicht die gekauften Zitate à la "Ein fulminanter Roman", "Ein Feuerwerk der Sinne" oder auch "Ein wichtiges Buch" - nein! Meine Liebe sucht sich andre Wirte...

Zum Beispiel so einen, wie er sich im Klappentext der Fischer Taschenbuch-Ausgabe von Richard Powers' "Der Klang der Zeit" tummelt (beiseite: Ich habe das Buch nicht gelesen, da Bücher, die auf Bestsellerlisten stehen oder standen, bei mir einen nicht näher definierbaren, dafür aber umso ausgeprägteren Überdruss auslösen). Hier also meine Rosine des Tages:

"In einem Roman mit großen Figuren, farbigen Dialogen und vor dem Tableau der Rassenunruhen der letzten Jahrzehnte Amerikas erzählt Richerd Powers die Geschichte einer Familie mit zwei Hautfarben..."

Bild: Farbiger Dialog

Donnerstag, 16. Februar 2006

Let’s rock!
Eine Liebeserklärung und eine Respektbekundung

Kaum einen Gegenstand kenn ich, der ästhetischer wäre als mein (gerade mal drei Monate junges!) iBook. (Hätte ich BWL studiert, ich ließe mir diese Aussage teuer bezahlen. So aber behaupte ich: Wahrheiten sind unverkäuflich!) Diese Grazie! Diese ätherische Schönheit! Diese geradezu klinische Reinheit! Dies jungfräuliche Weiß, durchbrochen nur von einem zart schimmernden, filigranen Äpfelchen – mag die Bibel das Buch der Bücher sein, mein iBook ist das Notebook der Notebooks!
So denke ich an guten Tagen.



An schlechten erinnert mich das weiß gelackte Powermaschinchen an den Konzertflügel von Udo Jürgens. (Nicht, dass ich was gegen Udo Jürgens hätte! Im Gegenteil: Ich hab sogar mit dem Gedanken gespielt, eine Karte für die eben gestartete Udo-will’s-nochmal-wissen-Tour legal zu erwerben, schrak dann aber vor dem stolzen Gegenwert von 55 Euro für die billigsten Plätze zurück.) Nur: Ein weißer Hochglanzflügel erscheint mir für einen 71-Jährigen doch etwas grenzwertig. Obwohl...

Ach Udo! Wie gerne hätt ich dich bewundert, wie du, ganz in Weiß (mit Ausnahme des in Schröderton glänzenden Haupthaars!) und drahtig wie ehedem an deinem weiß lackierten Flügel die Damenwelt beflügelst. Hätte die Schweißperlen gezählt, die ab dem dritten nonstop durchgepowerten Aberbittemitsahnemitsechsundsechzigjahrengriechischerwein-Medley deine männlich markanten Senkrechtfalten hinabrollen! Dir 16-jährige Brünette für danach zugeschustert! Ukrainerinnen, Polinnen - was dein Herz begehrt! Udo, du nimmermüder Schwerenöter, wie machst du das bloß? Andere kommen ins Gefängnis, gebärden sie sich „so wie du“ (einer meiner Lieblingssongs von dir!) oder werden zumindest öffentlich geächtet – s. Michel Friedmann. Aber der singt ja auch nicht so schön! Mr. Vorne-Hui-Hinten-Pfui würde es im Traum nicht einfallen, von „ehrenwerten“ Häusern singend deutsches Moralaposteltum durch den swinging Cacao zu ziehen. „Im Läääbe net“, wie ein Freund von mir gerne sagt.

Denn genau das ist der Unterschied:

Udo, du bist so herrlich dekadent
Auch mit 2-Phasen-Kukident!
Herrn Friedmanns Moralistenhaupt
Wirkt auch noch lackiert verstaubt.

Am besten, ich lege jetzt gleich meine Best-Of-Udo-Jürgens-CD ein und rocke die Tastatur meines weiß gelackten, heiß geliebten iBooks, bis mir der Schweiß von den Schläfen rinnt!


Ach Udo, wie machst du das bloß?

Mittwoch, 15. Februar 2006

Schwanensee.

Gestern (die Anzeige hinkt: Heute ist bereits Donnerstag, der 16.) war ich von meinem Vorhangerlebnis so euphorisiert, dass ich darüber glatt die Vogelgrippe vergaß. Ich meine, die Tatsache, dass sie jetzt auch Deutschland erreicht hat. In Gestalt sterbender Schwäne auf Rügen. Diese beunruhigende Meldung wirft die Frage auf, ob man den Rügener Kurgästen Tschaikowskis „Schwanensee“ in Zukunft noch wird bieten können, ohne in den Verdacht der Verunglimpfung der armen, am Virus H5N1 verendeten Tiere zu geraten. Wenn Witzzeichner fürs Witzezeichnen Morddrohungen bekommen - wie jüngst der Tagesspiegel-Karikaturist Klaus Stuttmann - , dann scheint mir diese Überlegung durchaus gerechtfertigt.
Aber was sollen bloß die Inhaber dieses Rügener Gästehauses tun? Ihre Pension aus aktuellem Anlass umbenennen?


Es lebte ein Schwan auf Rügen,
der konnte kein Wässerchen trüben.
Doch flugs macht die Grippe
aus ihm ein Gerippe -
das muss als Info genügen!

(Ungleich bessere Limericks finden Sie im noch jungen, aber alles andere als unbedarften Blog von Tinifeliz, meiner Schwester im Geiste: tastafari )
Hausarbeit kann so erhellend sein!

Und damit meine ich nicht nur die waschgängige Lakenmetamorphose von Grau zu Weiß, sondern vor allem Lichter der Art, wie sie einem aufgehen, wenn man an nichts denkt. An nichts denken – das geht bei mir am besten, indem ich Tätigkeiten nachgehe, die man gemeinhin „Hausarbeit“ nennt. Also: Staubsaugen, Boden feudeln, Treppe wichsen, Sofapolsterfalten entkrümeln, Flecken wegätzen... Womit wir beim Thema wären.

Heute Vormittag war es wieder so weit: Ich wollte an nichts denken und widmete mich also oben skizzierter Hausarbeit, genauer: dem Staubsaugen. Dabei fiel mir einmal mehr der unschöne, anthrazitfarbene Fleck auf meinem ansonsten elfenbeinweißen Vorhang auf, jenem Faltenwurf, der die Kleiderunordnung vom mehr oder weniger aufgeräumten Teil meines Schlafzimmers trennt, was durchaus die Assoziation „Kleiderschrank“ hervorruft. (Merke: Sage nie „evozieren“, wenn du auch kannst sagen „hervorrufen“!)

Jener Fleck war mir schon länger ein, wie man so sagt, Dorn im Auge, doch schrak ich jedes Mal vor den Umständen zurück, die eine Vollwäsche der langen, schweren Vorhangbahnen ohne Zweifel bedeuten würde. (Natürlich hätte ich mich dem Fleck auch mit irgendeinem „Putzteufel“ nähern können, doch das Risiko, hinterher vom Regen eines dunklen in die Traufe eines bleichen Mals zu kommen, schien mir zu hoch.)

Wie ich so staubsaugend den Fleck betrachte, kommt mir der Gedanke, es könne sich bei jenem vermeintlich hartnäckigen Schmutzplakat evtl. auch nur um eine harmlose Niederlassung dunkel gefärbter Staubpartikel handeln. Kühn schraube ich die Stange vom Staubsauger und betupfe mit dem nackten Rüssel die fragliche Stelle auf dem Vorhang. Der Rüssel will mehr, doch ziehe ich ihn mit sanfter Gewalt vom Stoff los und siehe da – der Fleck ist weg! Einfach so! Ohne Scheuern. Ohne Ätzen. Mit sanftem Brummen eingesogen vom Rüssel meines Staubsaugers.

Was ist nun die Moral von all dem? – Vielleicht dies:

Hüte dich vor wildem Putzen,
versuch’s erstmal mit sanftem Pusten!
Was lange dir im Kern missfällt,
nicht selten so zu Staub zerfällt!



Die Weste von Eugen Drewermann ist nichts gegen das Weiß meines Vorhangs!

Dienstag, 14. Februar 2006

Valentinstag.

Blumenfachverkäuferinnen müssen sich heute fühlen wie Pfarrer an Heilig Abend. Das ganze Jahr über mit sich und der Ware mehr oder weniger allein im Laden, wissen sie an genau einem Tag im Jahr vor Kundschaft nicht, wo ihnen der Kopf steht. Aber zum Glück verlangt das auch keiner.

Montag, 6. Februar 2006

Wo gehobelt wird, fallen Spätzle.

„Wo gehobelt wird, fallen Spätzle“, kommentierte neulich ein Freund die hygienisch-ästhetischen Kompromisse, die vermutlich nicht nur Küchenlaien wie wir eingehen müssen, wenn sie in den Genuss selbstgemachter schwäbischer „Spätzle“ kommen wollen. Und wer will das nicht?

Tatsächlich soll es Menschen geben, die dem hausgemachten Original seine schockgetrocknete Stiefschwester vorziehen und lieber stumpfsinnig vor beschlagenen Küchenfenstern den trübsten Gedanken nachhängen, bis bleiche, dürre, zuvor in Plastik eingeschweißte Wurmgebilde nach viertelstündigem Bad in kochendem Wasser endlich aus ihrer Leichenstarre erwachen, als sich am Anblick goldgelb durch die Löcher des Spätzlehobels perlenden Frischteiges zu ergötzen. Was wohl die Menschen in solche Blindheit treibt, dass sie nicht mehr zwischen Gut und Böse unterscheiden können? Eine schlimme Kindheit? Unterdrückte sexuelle Perversion? Oder einfach die Freude am Schrecklichen? Am Bösen an sich? Man weiß es nicht. Will es nicht wissen...

Wo gehobelt wird, fallen Spätzle. Ein Satz von höherer Weisheit. Aus ihm spricht der unbedingte Wille zum Guten. Der Dalai Lama würde bei solchen Worten glatt seine Lachfalten verlieren, bekäme er davon Wind, dass sie nicht seiner PR-Agentur eingefallen sind und somit die Verwertungsrechte woanders liegen. In einer Karlsruher WG-Küche zum Beispiel.

Vielleicht ist es ja tatsächlich so, dass, wo gehobelt wird, weitaus öfter Spätzle fallen, als uns bewusst ist?

Nehmen wir die Mohammed-Karikaturen. Es wurde kräftig gehobelt, zuerst in Dänemark, dann in Frankreich, Deutschland und anderen europäischen Staaten. Auf den ersten Blick sieht es tatsächlich so aus, als ob das nationenübergreifende Hobeln der sich mutig gebärdenden „Blattmacher“ nichts als einen beträchtlichen Haufen Späne hinterlassen habe (brennende Botschaften, Großdemonstrationen mit Hasstiraden und Morddrohungen, ja sogar erste Todesopfer). Aber nur tumbe Börsentickerabonnenten geben sich mit dem erstbesten Blick zufrieden. Dabei offenbart der zweite oft das genaue Gegenteil.



Nun muss man schon ein emotionaler Analphabet sein, um brennende Büros oder das Meucheln unbescholtener Familienväter gut zu heißen. Nein, nein und nochmals nein, dieses ist unter (nahezu) keinen Umständen zu befürworten, und früge mich ein Sounddesigner, wie er solches Tun akustisch untermalen solle, so zöge ich den Offenbach’schen „Orpheus in der Unterwelt“ ohne zu zögern Beethovens „Freude, schöner Götterfunken“ vor. Aber da kein Sounddesigner mich gefragt hat, wird die Überlegung gestattet sein, ob die urbanen Turbantumulte vulgo „Karikaturenstreit“ nicht auch irgendwo, in den schlecht ausgeleuchteten Winkeln politischer Untadeligkeit, ihr Gutes haben, ob nicht – bei aller Ungehobeltheit, die jede Gotteslästerung in den Augen der Gottesanbeter und –beterinnen bedeuten muss - die Späne des Karikaturhobelns in einem höheren Sinne Spätzle sind. Sie hießen dann zum Beispiel: „Gelassenheit“. „Humor“. Meinetwegen auch „Meinungsfreiheit“. Aber bis auf eine gewisse Ähnlichkeit im Schriftbild haben Hamas und Humor nicht viel gemein, weswegen der Hamashumor der westlichen Welt wohl noch mehrere Dekaden über Rätsel aufgeben wird.
Ob also, wo gehobelt wird, Spätzle oder Späne fallen, liegt offensichtlich da, wo fast alles liegt: im Auge des Betrachters.

Samstag, 4. Februar 2006

Karlsruhe im Kopf

Seit knapp eineinhalb Jahren wohne ich in Karlsruhe. Karlsruhe teilt sein Schicksal mit einigen anderen deutschen Städten (wie etwa Paderborn, Herne oder Bielefeld), deren Ureinwohner gerne behaupten, ihre Stadt sei nur deswegen dem Rest des Landes unbekannt, weil man eben "kein großes Gerede" um sie mache. Meist dauert es nicht lange, und es fällt die Formel vom "zweiten Blick", den man auf sie werfen müsse, um die "verborgene Schönheit" dieser "unterschätztesten" (sic!) aller unterschätzten deutschen Städte zu erkennen. Wie man sehen kann, wird das Mäntelchen christlicher Bescheidenheit, das so Sprechende zunächst bedeckt, im Laufe der Liebeserklärungen meist etwas morsch, denn auch grammatikalisch falsche und semantisch fragwürdige Superlative sind Superlative. Und damit nicht weiter steigerbar. Der Superlativ, egal welcher Beschaffenheit, signalisiert nur eines: Ich bin der Gipfel! Über mir kommt nur noch die duftige Weite des Himmels.

Von dort wieder hinunter auf die Erde. Ins Irdische. Konkrete. Nach Karlsruhe. Noch konkreter (allerdings nicht zwingend irdischer): In den Karlsruher Stadtrat (featuring the young urban professionals from the hippest "Stadtmarketing"-Abteilung of Northern Baden).

In eben jenem Stadtrat sitzen Männer und Frauen mittleren Alters, deren Bestimmung es seit Ende ihrer Pubertät ganz offensichtlich ist, in einem Stadtrat zu sitzen und sich die Schuppen aus dem Bart zu puhlen bzw. den Spliss aus den Haaren zu knipsen. Und wenn dieser "Stadtrat" dann wiederum in einer Stadt sitzt, deren Bürger "Fuck Bush"-an-verwaiste-Unterführungen-Sprühen für die Vorstufe zur Weltrevolution halten, umso besser! Klammer auf: Um der gefährlichen Zügellosigkeit der Folgegeneration mit Hang zu rüdem Sprechgesang Einhalt zu gebieten, sind überall da, wo es das "Stadtbild" aufgrund der exklusiven Randlage nicht stört, Waschbetonwände via Hinweisschild als "Free Walls" ausgezeichnet. Nicht ohne den potenziell kommerziellen Nutzen ins Hirn der noch nicht ganz verlorenen Hoffnungsträger von morgen durch den Zusatz "deine Graffiti-Visitenkarte" zu pflanzen. Klammer zu.

Im Schicksalsjahr 2001 hat eben jener Stadtrat das getan, was Stadträte und verwandte Einrichtungen am liebsten tun: Er hat eine Initiative gegründet. Wofür, war erst mal sekundär. Zunächst ging es darum, sich selbst und "dem Bürger" (unbedingt im Singular!) durch das Gründen einer Initiative zu demonstrieren, wie initiativ man sei. Man beratschlagte, wie es anzustellen sei, dass man sich auch in Zukunft den Rücken zur Maniküre u.ä. frei halten und dabei dennoch den Eindruck von Tätigkeit erwecken könne, und kam auf die geniale Idee der Bürgerbeteiligung: Die Vorschläge zur allgemeinen Verbesserung städtischen Lebens in Karlsruhe sollten ab sofort vom Bürger selbst erbracht werden. Fehlte nur noch ein fetziger Name, irgendwas Knackiges... Es dauerte nicht lange und "KIK" war geboren: "Karlsruhe im Kopf".

Doch betrachten wir die Genese dieses verbalakrobatischen Knackwurstakronyms ein wenig genauer und schalten zurück in jene denkwürdige Stunde, die Stadtgeschichte schrieb. Life in den Karlsruher Stadtrat.

Stadtrat A in die Runde:
"Unser erstes und oberstes Ziel muss es sein, uns beim Bürger gut zu positionieren. Dazu gehört römisch Eins ein professionelles Selbstmarketing mit Klein-a mindestens drei Initiativen pro Quartal, Klein-b einer sagen wir zwölfseitigen... äh... Agenda und Klein-c regelmäßige Berichterstattung in der Presse."

Allgemeines Nicken, zustimmendes Brummen, bis Stadträtin B zu Bedenken gibt:
"Ich gebe zu Bedenken, dass Punkt Römisch Eins Klein-c uns vor Probleme stellen könnte, wenn herauskommt, dass unsere Initiativen ... nun ja... Inhalte, ich möchte nicht sagen 'vermissen lassen', aber..."

Aufgebrachtes Raunen, aus dem sich die Stimme von Stadtrat A erhebt:
"Werte Kollegin, Sie wissen doch so gut wie wir alle, dass so ziemlich der einzige Rohstoff, der mehr nachwächst als uns lieb ist, der Haufen unbezahlter freier Journalisten ist, der nur darauf giert, einen Auftrag zu bekommen, für den er ausnahmsweise ein Honorar kassiert."

Kollegin B:
"Ja, ja, sicher weiß ich das. Ich wollte ja auch nur zu Bedenken geben, dass es auch unter freien Journalisten solche gibt, die durchaus kritisch..."

Stadtrat A mit teuflisch zuckenden Mundwinkeln:
"Ist die kritische Masse erst einmal überwunden, lebt sich’s gänzlich ungeniert."

Kollegin B sieht die Unhaltbarkeit ihrer Einwände ein, ist ab sofort still und widmet sich ohne Bedenken der eingerissenen Nagelhaut ihres linken Daumens.

Da niemandem in der Runde auffällt, dass ein Römisch Eins normalerweise nach einem Römisch Zwei verlangt, erhebt auch keiner Einspruch, als Stadtrat A, der längst zum Alleinredner geworden ist, Römisch Eins Klein-a im Handumdrehen abarbeitet, indem er o.g. Kräfte sparende Konzept der Bürgerbeteiligung zur Initiative adelt. Da allen im Raum klar ist, dass eine Inititative ohne initiativ klingenden Namen weniger wert ist als die Nagelhautfetzen auf Stadträtin B s Klarsichthülle, murrt man höchstens in Gedanken, als Stadtrat A mit forscher Stimme zum Brainstorming betreffs Bürgerselbstbeteiligungsinitiativennamensgebung aufruft. Außerdem klingt „Brainstorming“ gar nicht so schlecht. „Ein bisschen gefährlich, irgendwie verrucht“, denkt Stadträtin B, hütet sich aber davor, es laut zu sagen, denn zwei Niederlagen reichen für eine Sitzung. Die alten Hasen im Raum freuen sich, dass Stadtrat A endlich mal wieder Zucht und Ordnung in diese verweichlichte Runde bringen will. Eine ordentliche Gehirnwäsche, jawoll, das hat was! Soll sie halt in Gottes Namen neumodisch „Brainstorming“ heißen, Hauptsache, mit dem lästigen Gerede und Abgestimme ist endlich Schluss. Stadtrat A, befiehl, wir folgen dir!

Es dauert eine Weile, bis die Jungen den Alten erklärt haben, dass „Brainstorming“ nichts mit Gehirnwäsche zu tun hat, sondern eher mit dem Gegenteil.

„Sie dürfen keine Hemmungen haben, lassen Sie einfach raus, was Ihnen gerade durch den Kopf geht! Jede Idee ist eine gute Idee!“ animiert der jugendlich wirkende Stadtrat C die Runde.

„Krautwickel!“ ruft ein Stadtrat mit Hut. Wieso auch nicht? Schließlich solle man frei herausrufen, was einem gerade durch den Kopf...

Das Eis ist gebrochen, die Ideen peitschen durch den Saal wie die Spieler im Quidditch-Turnier bei Harry Potter.

„Kirschstrudel!“

„Cholesterinspiegel!“

„Mehlwurmbekämpfungsmittel“

So geht das unentwegt. Eine Viertelstunde lang.

„Ruhe! Das hält man ja im Kopf nicht aus!“ scheppert’s auf einmal durch den Saal. Stadtrat A, der die letzten zehn Minuten mit Schweißperlen auf der Stirn Goethes ‚Zauberlehrling’ rauf- und runtergebetet hat, findet endlich zur alten Autorität zurück. „Meine Damen und Herren, Ihr Freigeist in allen Ehren, aber bedenken Sie, dass der Name unserer Initiative etwas mit unserer Stadt zu tun haben sollte.“

Das Wort „Bedenken“ entzündet in Stadträtin B ein Feuer ungezügelter Kreativität.

„Karlsruhe!“ ruft sie mit rot gescheckten Wangen. Im Saal wird es augenblicklich still.
Karlsruhe! Das ist es! Wozu in die Ferne schweifen, wenn das Gute liegt so nah? Dass man darauf nicht selbst gekommen ist! Doch am Einwand von Stadtrat C, dass einfach nur „Karlsruhe“ als Name für eine Initiative, die Innovationsgeist und Bürgernähe ausstrahlen solle, vielleicht doch ein wenig zu schlicht sei, ist schon auch was dran. „Aber, werte Kollegin B, vielleicht haben Sie ja noch mehr solcher Geistesblitz wie ‚Karlsruhe’ in ihrem hübschen Kopf“, versucht Stadtrat C das auf ein kleines Flämmchen geschrumpfte Kreativitätsfeuer von Kollegin B neu zu entfachen.

Doch kaum sind seine Worte im Hufeisen der Tischreihen verhallt, schlägt er sich mit flacher Hand an die Schläfen. „... im Kopf! Das ist es! Karlsruhe im Kopf! “ Ein allgemeiner Tumult bricht aus. In 50-facher Brechung schallen die magischen drei Worte durch den Raum und lassen die Staubmäuse tanzen.

Rechtzeitig zur Mittagspause ist der große Wurf also doch noch gelungen. Wir können die Szene daher getrost verlassen, denn was nun folgt, entzieht sich der Beschreibbarkeit. Und was man nicht beschreiben kann, davon soll man schweigen.

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Karlsruhe im Kopf. Abkürzung: KIK. Königlich-kaiserlich eingerahmt ein großes "I", der Vokal mit der weitaus strammsten Haltung, dem hellsten Klang und obendrein der besten Assoziation, die ein Vokal - zumindest dessen Schriftbild - evozieren kann: Römisch Eins!

Karlsruhe im Kopf. Abgesehen von dem unfreiwilligen Radikalkonstruktivismus eine Formel, auf die die Stadtväter stolz gewesen wären. Ist sie doch gleichzeitig dynamisch wie in sich ruhend. Und KIK - das klingt nach Beckham, Herzog'schem Hauruck und sparkassenjugendsprachlichem Drive und hätte womöglich Potenzial, den Bürger aus der selbstgewählten Lethargie zu wecken. Doch bevor der Blutdruck und mit ihm die Krankenkassenkosten unnötig in die Höhe getrieben werden, sorgt die Auflösung der prophylaktisch unter Terrorismusverdacht gestellten drei Buchstaben augenblicklich für Entspannung: A, U und O wirken in ihrer dunklen Kühle reizlindernd, antiseptisch und schlaffördernd. Kaaarlsruuuhe im Kopf... Kaaaarlsruuuhe im Kopf.... Ruuuuuuuhe im Kopf....



Um die Entstehung französischer Verhältnisse zu verhindern, hat man der Karlsruher Jugend Freiflächen zur Rebellion in Maßen eingerichtet.


Die Karlsruher Jugend hat verstanden.


Die Vogelwelt auch.

Donnerstag, 2. Februar 2006

Sprachklischees, Folge 748:
„Morbider Charme“ zur Charakterisierung von Venedig

Ja, ja, jaaaaaa! Venedig ist nicht erst seit Thomas Mann Sinnbild westlicher Todessehnsucht. Und sicher muss schon ein arger Holzkopf sein, wem beim Anblick der im Canale Grande zerfließenden Wolken nicht irgendwie poetisch ums Herz wird. ABER: Muss man deswegen hinnehmen, dass einem von allen Seiten die Formel vom „morbiden Charme“ um die Ohren gehauen wird? Ob der (mir) unbekannte Journalist, dem sie einst aus der Feder floss, wohl geahnt hat, dass seine Schöpfung verflucht wurde, auf immer als Untote durch alle Kanäle zu rauschen? Dass sie, einmal ausgesprochen, zum Dichtungspfropfen für die löchrigen Journalistenhirne dieser Welt verkommen würde? Wohl kaum. Sonst hätte er sie sicher vor diesem Schicksal bewahrt, das Papier zusammengeknüllt und vorsichtshalber verbrannt. Aber vermutlich war es GENAU SO! Doch, ach: Ein anderer Schreiber kam zwei Straßen weiter auf genau dieselbe Formulierung. Schrieb sie auf. Ließ sie drucken. Und da war sie. Und wir werden sie nicht mehr los.

Mittwoch, 1. Februar 2006

Über Schönheit.

Ein Palast. Ein Model. Ein WM-Slogan.

Thomas Hoof ist der Gründer des Versandhandels „Manufactum“. Hier wird der globalen „Schneller-Billiger-Schlechter“-Produktionsspirale mit umweltfreundlich und äußerst stilvoll gefertigtem Hausrat der Fehdehandschuh (Obermaterial: feines Büffelleder, Futter: Lammfell) hingeworfen. „Es gibt sie noch, die guten Dinge“, heißt der Wahlspruch des Hauses. Die weithin verbreitete Wegwerfmentalität wird hier an der holzgefertigten Garderobe (Schreinerei Kohlhaas aus Winden in der Pfalz) abgegeben oder wahlweise durch die hochwertige Edelstahl-Küchenmaschine (ihr leises Surren fügt sich harmonisch in die e-moll-Fuge des ‚Wohltemperierten Klaviers’ von Johann Sebastian Bach) gejagt. Denn „gut“ heißt für Thomas Hoof in erster Linie: langlebig, reparierbar und nach hergebrachten Herstellungstechniken gefertigt. Und als ausgewiesener Bücherfreund (mit eigener Verlagsbuchhandlung „Manuscriptum“) weiß er: Wo das Gute ist, ist das Schöne nicht weit. Die Manufactumware ist eben deswegen gut, weil sie "aus ihrer Funktion heraus materialgerecht gestaltet und daher schön" ist, wie es im Katalogeditorial heißt.

An dieser Stelle verlassen wir die wahren, guten und schönen Waren, schnippeln die gehaltvolle Hoof’sche Definition aus ihrem Kontext, legen sie unters Mikroskop (eine handelsübliche Lupe tut’s auch) und sehen sie uns genauer an:

Wann ist ein Ding „schön“? – Antwort: wenn es "aus (seiner) Funktion heraus materialgerecht gestaltet“ ist. Das führt zu weiteren Fragen.

Fragen wie

a) Ist der Palast der Republik schön?

Mit Sicherheit ist er aus seiner Funktion (Hüpfburg für Stasispitzel) heraus materialgerecht gestaltet (flächendeckende Asbestverseuchung, blickdichtes Fensterglas), aber ist er deswegen wirklich „schön“?

Wahre Schönheit kommt von innen, könnte man sagen. Aber wenn da nichts mehr ist? Und wenn man, als da noch was war, von außen nicht reingucken konnte? Wenn man stattdessen nur sein eigenes Spiegelbild sah? Moment mal, vielleicht liegt hierin ja schon die Antwort: Der P.d.R. war zu Lebzeiten genau so lange schön, bis man ihn betrat – ein ungetrübtes Verhältnis zum eigenen Spiegelbild vorausgesetzt. War man erst einmal drin, spielten zutiefst antisozialistische Disziplinen wie Schönheit sowieso keine Rolle mehr. Und in ein paar Wochen ist dank chemisch-ideologischer Verseuchung sowieso Schluss mit Geschichte. Dann geht’s voran! Mit großen Schritten zurück ins Kaiserreich!

Oder auch

b) Ist Kate Moss schön?

Der "aus ihrer Funktion heraus materialgerecht gestaltet“-Test ergibt: Eindeutig ja! (Erkl.: Funktion: koksend-morbider Modevamp; Material: Gucci, Koks, Haut und Knochen)

Oder

c) Ist der WM-Slogen, „Die Welt zu Gast bei Freunden“, schön?

Geht man davon aus, dass die Funktion dieses Slogans darin bestehen soll, die Welt von dem mit schiefen Metaphern garnierten Amalgam aus Hybris und plumper Vertraulichkeit des WM-Gastgeberlandes zu überzeugen: Ja. Andernfalls: Nein. Denn 1. erschöpft sich die Welt nicht in 31 Fußballnationen; 2. ist auch Deutschland Teil eben dieser Welt und die Gesetze der Logik verbieten es, dass der Gastgeber bei sich selbst zu Gast ist, 3. erklärt man sich nicht ungefragt zum Freund von jemandem, erst recht nicht von ganzen Nationen, und noch viel weniger von 31 Nationen! Oder haben wir etwa die Elfenbeinküste gefragt, ob sie uns zum Freund haben will?