Sprachklischees, Folge 748:
„Morbider Charme“ zur Charakterisierung von Venedig
Ja, ja, jaaaaaa! Venedig ist nicht erst seit Thomas Mann Sinnbild westlicher Todessehnsucht. Und sicher muss schon ein arger Holzkopf sein, wem beim Anblick der im Canale Grande zerfließenden Wolken nicht irgendwie poetisch ums Herz wird. ABER: Muss man deswegen hinnehmen, dass einem von allen Seiten die Formel vom „morbiden Charme“ um die Ohren gehauen wird? Ob der (mir) unbekannte Journalist, dem sie einst aus der Feder floss, wohl geahnt hat, dass seine Schöpfung verflucht wurde, auf immer als Untote durch alle Kanäle zu rauschen? Dass sie, einmal ausgesprochen, zum Dichtungspfropfen für die löchrigen Journalistenhirne dieser Welt verkommen würde? Wohl kaum. Sonst hätte er sie sicher vor diesem Schicksal bewahrt, das Papier zusammengeknüllt und vorsichtshalber verbrannt. Aber vermutlich war es GENAU SO! Doch, ach: Ein anderer Schreiber kam zwei Straßen weiter auf genau dieselbe Formulierung. Schrieb sie auf. Ließ sie drucken. Und da war sie. Und wir werden sie nicht mehr los.
Donnerstag, 2. Februar 2006
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