Samstag, 4. Februar 2006

Karlsruhe im Kopf

Seit knapp eineinhalb Jahren wohne ich in Karlsruhe. Karlsruhe teilt sein Schicksal mit einigen anderen deutschen Städten (wie etwa Paderborn, Herne oder Bielefeld), deren Ureinwohner gerne behaupten, ihre Stadt sei nur deswegen dem Rest des Landes unbekannt, weil man eben "kein großes Gerede" um sie mache. Meist dauert es nicht lange, und es fällt die Formel vom "zweiten Blick", den man auf sie werfen müsse, um die "verborgene Schönheit" dieser "unterschätztesten" (sic!) aller unterschätzten deutschen Städte zu erkennen. Wie man sehen kann, wird das Mäntelchen christlicher Bescheidenheit, das so Sprechende zunächst bedeckt, im Laufe der Liebeserklärungen meist etwas morsch, denn auch grammatikalisch falsche und semantisch fragwürdige Superlative sind Superlative. Und damit nicht weiter steigerbar. Der Superlativ, egal welcher Beschaffenheit, signalisiert nur eines: Ich bin der Gipfel! Über mir kommt nur noch die duftige Weite des Himmels.

Von dort wieder hinunter auf die Erde. Ins Irdische. Konkrete. Nach Karlsruhe. Noch konkreter (allerdings nicht zwingend irdischer): In den Karlsruher Stadtrat (featuring the young urban professionals from the hippest "Stadtmarketing"-Abteilung of Northern Baden).

In eben jenem Stadtrat sitzen Männer und Frauen mittleren Alters, deren Bestimmung es seit Ende ihrer Pubertät ganz offensichtlich ist, in einem Stadtrat zu sitzen und sich die Schuppen aus dem Bart zu puhlen bzw. den Spliss aus den Haaren zu knipsen. Und wenn dieser "Stadtrat" dann wiederum in einer Stadt sitzt, deren Bürger "Fuck Bush"-an-verwaiste-Unterführungen-Sprühen für die Vorstufe zur Weltrevolution halten, umso besser! Klammer auf: Um der gefährlichen Zügellosigkeit der Folgegeneration mit Hang zu rüdem Sprechgesang Einhalt zu gebieten, sind überall da, wo es das "Stadtbild" aufgrund der exklusiven Randlage nicht stört, Waschbetonwände via Hinweisschild als "Free Walls" ausgezeichnet. Nicht ohne den potenziell kommerziellen Nutzen ins Hirn der noch nicht ganz verlorenen Hoffnungsträger von morgen durch den Zusatz "deine Graffiti-Visitenkarte" zu pflanzen. Klammer zu.

Im Schicksalsjahr 2001 hat eben jener Stadtrat das getan, was Stadträte und verwandte Einrichtungen am liebsten tun: Er hat eine Initiative gegründet. Wofür, war erst mal sekundär. Zunächst ging es darum, sich selbst und "dem Bürger" (unbedingt im Singular!) durch das Gründen einer Initiative zu demonstrieren, wie initiativ man sei. Man beratschlagte, wie es anzustellen sei, dass man sich auch in Zukunft den Rücken zur Maniküre u.ä. frei halten und dabei dennoch den Eindruck von Tätigkeit erwecken könne, und kam auf die geniale Idee der Bürgerbeteiligung: Die Vorschläge zur allgemeinen Verbesserung städtischen Lebens in Karlsruhe sollten ab sofort vom Bürger selbst erbracht werden. Fehlte nur noch ein fetziger Name, irgendwas Knackiges... Es dauerte nicht lange und "KIK" war geboren: "Karlsruhe im Kopf".

Doch betrachten wir die Genese dieses verbalakrobatischen Knackwurstakronyms ein wenig genauer und schalten zurück in jene denkwürdige Stunde, die Stadtgeschichte schrieb. Life in den Karlsruher Stadtrat.

Stadtrat A in die Runde:
"Unser erstes und oberstes Ziel muss es sein, uns beim Bürger gut zu positionieren. Dazu gehört römisch Eins ein professionelles Selbstmarketing mit Klein-a mindestens drei Initiativen pro Quartal, Klein-b einer sagen wir zwölfseitigen... äh... Agenda und Klein-c regelmäßige Berichterstattung in der Presse."

Allgemeines Nicken, zustimmendes Brummen, bis Stadträtin B zu Bedenken gibt:
"Ich gebe zu Bedenken, dass Punkt Römisch Eins Klein-c uns vor Probleme stellen könnte, wenn herauskommt, dass unsere Initiativen ... nun ja... Inhalte, ich möchte nicht sagen 'vermissen lassen', aber..."

Aufgebrachtes Raunen, aus dem sich die Stimme von Stadtrat A erhebt:
"Werte Kollegin, Sie wissen doch so gut wie wir alle, dass so ziemlich der einzige Rohstoff, der mehr nachwächst als uns lieb ist, der Haufen unbezahlter freier Journalisten ist, der nur darauf giert, einen Auftrag zu bekommen, für den er ausnahmsweise ein Honorar kassiert."

Kollegin B:
"Ja, ja, sicher weiß ich das. Ich wollte ja auch nur zu Bedenken geben, dass es auch unter freien Journalisten solche gibt, die durchaus kritisch..."

Stadtrat A mit teuflisch zuckenden Mundwinkeln:
"Ist die kritische Masse erst einmal überwunden, lebt sich’s gänzlich ungeniert."

Kollegin B sieht die Unhaltbarkeit ihrer Einwände ein, ist ab sofort still und widmet sich ohne Bedenken der eingerissenen Nagelhaut ihres linken Daumens.

Da niemandem in der Runde auffällt, dass ein Römisch Eins normalerweise nach einem Römisch Zwei verlangt, erhebt auch keiner Einspruch, als Stadtrat A, der längst zum Alleinredner geworden ist, Römisch Eins Klein-a im Handumdrehen abarbeitet, indem er o.g. Kräfte sparende Konzept der Bürgerbeteiligung zur Initiative adelt. Da allen im Raum klar ist, dass eine Inititative ohne initiativ klingenden Namen weniger wert ist als die Nagelhautfetzen auf Stadträtin B s Klarsichthülle, murrt man höchstens in Gedanken, als Stadtrat A mit forscher Stimme zum Brainstorming betreffs Bürgerselbstbeteiligungsinitiativennamensgebung aufruft. Außerdem klingt „Brainstorming“ gar nicht so schlecht. „Ein bisschen gefährlich, irgendwie verrucht“, denkt Stadträtin B, hütet sich aber davor, es laut zu sagen, denn zwei Niederlagen reichen für eine Sitzung. Die alten Hasen im Raum freuen sich, dass Stadtrat A endlich mal wieder Zucht und Ordnung in diese verweichlichte Runde bringen will. Eine ordentliche Gehirnwäsche, jawoll, das hat was! Soll sie halt in Gottes Namen neumodisch „Brainstorming“ heißen, Hauptsache, mit dem lästigen Gerede und Abgestimme ist endlich Schluss. Stadtrat A, befiehl, wir folgen dir!

Es dauert eine Weile, bis die Jungen den Alten erklärt haben, dass „Brainstorming“ nichts mit Gehirnwäsche zu tun hat, sondern eher mit dem Gegenteil.

„Sie dürfen keine Hemmungen haben, lassen Sie einfach raus, was Ihnen gerade durch den Kopf geht! Jede Idee ist eine gute Idee!“ animiert der jugendlich wirkende Stadtrat C die Runde.

„Krautwickel!“ ruft ein Stadtrat mit Hut. Wieso auch nicht? Schließlich solle man frei herausrufen, was einem gerade durch den Kopf...

Das Eis ist gebrochen, die Ideen peitschen durch den Saal wie die Spieler im Quidditch-Turnier bei Harry Potter.

„Kirschstrudel!“

„Cholesterinspiegel!“

„Mehlwurmbekämpfungsmittel“

So geht das unentwegt. Eine Viertelstunde lang.

„Ruhe! Das hält man ja im Kopf nicht aus!“ scheppert’s auf einmal durch den Saal. Stadtrat A, der die letzten zehn Minuten mit Schweißperlen auf der Stirn Goethes ‚Zauberlehrling’ rauf- und runtergebetet hat, findet endlich zur alten Autorität zurück. „Meine Damen und Herren, Ihr Freigeist in allen Ehren, aber bedenken Sie, dass der Name unserer Initiative etwas mit unserer Stadt zu tun haben sollte.“

Das Wort „Bedenken“ entzündet in Stadträtin B ein Feuer ungezügelter Kreativität.

„Karlsruhe!“ ruft sie mit rot gescheckten Wangen. Im Saal wird es augenblicklich still.
Karlsruhe! Das ist es! Wozu in die Ferne schweifen, wenn das Gute liegt so nah? Dass man darauf nicht selbst gekommen ist! Doch am Einwand von Stadtrat C, dass einfach nur „Karlsruhe“ als Name für eine Initiative, die Innovationsgeist und Bürgernähe ausstrahlen solle, vielleicht doch ein wenig zu schlicht sei, ist schon auch was dran. „Aber, werte Kollegin B, vielleicht haben Sie ja noch mehr solcher Geistesblitz wie ‚Karlsruhe’ in ihrem hübschen Kopf“, versucht Stadtrat C das auf ein kleines Flämmchen geschrumpfte Kreativitätsfeuer von Kollegin B neu zu entfachen.

Doch kaum sind seine Worte im Hufeisen der Tischreihen verhallt, schlägt er sich mit flacher Hand an die Schläfen. „... im Kopf! Das ist es! Karlsruhe im Kopf! “ Ein allgemeiner Tumult bricht aus. In 50-facher Brechung schallen die magischen drei Worte durch den Raum und lassen die Staubmäuse tanzen.

Rechtzeitig zur Mittagspause ist der große Wurf also doch noch gelungen. Wir können die Szene daher getrost verlassen, denn was nun folgt, entzieht sich der Beschreibbarkeit. Und was man nicht beschreiben kann, davon soll man schweigen.

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Karlsruhe im Kopf. Abkürzung: KIK. Königlich-kaiserlich eingerahmt ein großes "I", der Vokal mit der weitaus strammsten Haltung, dem hellsten Klang und obendrein der besten Assoziation, die ein Vokal - zumindest dessen Schriftbild - evozieren kann: Römisch Eins!

Karlsruhe im Kopf. Abgesehen von dem unfreiwilligen Radikalkonstruktivismus eine Formel, auf die die Stadtväter stolz gewesen wären. Ist sie doch gleichzeitig dynamisch wie in sich ruhend. Und KIK - das klingt nach Beckham, Herzog'schem Hauruck und sparkassenjugendsprachlichem Drive und hätte womöglich Potenzial, den Bürger aus der selbstgewählten Lethargie zu wecken. Doch bevor der Blutdruck und mit ihm die Krankenkassenkosten unnötig in die Höhe getrieben werden, sorgt die Auflösung der prophylaktisch unter Terrorismusverdacht gestellten drei Buchstaben augenblicklich für Entspannung: A, U und O wirken in ihrer dunklen Kühle reizlindernd, antiseptisch und schlaffördernd. Kaaarlsruuuhe im Kopf... Kaaaarlsruuuhe im Kopf.... Ruuuuuuuhe im Kopf....



Um die Entstehung französischer Verhältnisse zu verhindern, hat man der Karlsruher Jugend Freiflächen zur Rebellion in Maßen eingerichtet.


Die Karlsruher Jugend hat verstanden.


Die Vogelwelt auch.

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