Donnerstag, 4. Mai 2006

Birgit mit den rosa Söckchen.

Der Karlsruher bzw. die Karlsruherin zeichnet sich neben einem unverkennbar baaaaaadischen Zungenschlag (wobei die Dynamik des Wortes „Zungenschlag“ angesichts der heillos überdehnten Vokale nicht so recht passen mag. Drum sei „Zungenschlag“ flugs ersetzt durch „Dialekt“ oder besser noch durch „Mundart“) durch einen Kleidungsstil aus, den man nur schwer beschreiben kann, weil er quasi nicht existiert. Die wahllose Mischung knisternder Textilien aus Kaufhäusern mit Namen des Typs „Großbuchstabe & Großbuchstabe“ verlangt von der empfindlichen Netzhaut ein Höchstmaß an Toleranz. Dass der Karlsruher bzw. die Karlsruherin die willkürlichen C&A-, H&M-, K&L-Konfektionskompilationen mit geradezu weltbürgerlichem Stolz spazieren führt, (wovon neben viel zu lautem Telefonieren mit übertrieben abgespreiztem Ellenbogen kühne Spiegelglas-Sonnenbrillen, Zungenpiercings und glibbrige Irokesenverschnitte zeugen, derer man sich andernorts längst schämt) macht alles nicht besser.

Nun kann man sich getrost über derlei Geschmacksirrungen lustig machen, so lange es sich um Menschen zumeist jugendlichen oder doch zumindest eines jungen Erwachsenenalters handelt, denn diese Menschen haben ihr Leben i.d.R. noch vor sich und können eine verbale Kaltdusche gut verkraften – zumal sie, Dauer-Caipi-gedopt und lesefaul, ohnehin nichts davon mitbekommen. Wirklich schlimm wird das alles erst ab einem gewissen Alter. Sagen wir ab fünfzig.

Gerade eben sah ich in der Fußgängerzone eine Frau um die fünfzig, zerzauste, fahl gelbe Dauerwelle, in der einen Hand eine Zigarette, in der anderen eine Plastiktüte, mit welcher der Wind seine Spielchen trieb. Nennen wir sie Birgit.

Zur pinkfarbenen Caprihose trug Birgit ein orangenes Flatterhemd, was an sich ja noch kein Grund zur Sorge wäre. Doch der Anblick ihrer großen Füße, die sie zuerst in rosa Nylonsöckchen und dann in weiße, offene Pantoletten gepackt hatte, stimmte mich traurig. ‚Diese Frau hat niemanden, der ihr sagt, dass man so nicht aus dem Haus gehen kann’, dachte ich. Und ich stellte mir vor, wie sie morgens in die Firma geht, wo sie dreimal die Woche sauber macht. Den Instantkaffee hat sie wieder nur zur Hälfte ausgetrunken, weil ihr Magen den Kaffee eigentlich nicht verträgt. Trotzdem will sie auf diesen kleinen täglichen Genuss nicht verzichten, denn ihr Leben ist arm an Genüssen und reich an Entbehrungen. Zum Glück weiß sie das nicht. Sie hat keinen Mann mehr, und auch die Kinder sind für sie so gut wie gestorben. Wenn sie einmal im Jahr zu Besuch kommen, natürlich an Weihnachten, ziehen sie lange Gesichter, weil es nicht der Original-i-pod ist, sondern ein Imitat in Silbergrau („total uncool!“), und dabei ihre Handys aus der Hosentasche, weil sie nur eines wollen: weg! Sie verabreden sich mit ihren Freunden, um ihren Frust mit Alkopops zu löschen. Geteiltes Leid ist halbes Leid.

Das allerdings weiß auch Birgit. Doch mit wem außer dem Fernseher sollte sie ihr Leid teilen? Und welches Leid überhaupt? Der Tag geht, wie er gekommen ist. Wie alle Tage kommen und gehen: lautlos, gedankenlos, schmerzfrei. Ab und an ein Magenstechen. Sobald draußen die Sonne scheint, kommen die weißen Pantoletten und die pinkfarbene Caprihose aus dem Schrank. Und die rosa Söckchen von letztem Sommer müssen auch irgendwo sein...

1 Kommentar:

  1. Oh meine Güte ist das traurig!!
    Aber sei versichert, liebe Pandora, diese Art von Birgits gibt es auch in Großstädten.
    Zumindest des Wochenendes, wenn sich das Umland in die Kölner Großbuchstabenfilialenfußgängerzone begibt, sieht man DIES und auch noch einiges Schlimmeres.
    So dass ich gar nicht weiß, was ich schlimmer finde: Die Karlsruher Birgit mit den rosa Söckchen oder die Bergheimer Uschi (23) mit vier Kindern (Kevin aus erster Ehe, Taylor-Léon, Chantal-Savannah und Sarah-Vivienne), Fluppe im Mundwinkel und ch/sch-Schwäche. Ich weiß es wirklich nicht

    seufzt
    Tinifeliz

    AntwortenLöschen